„Past & Future Democracies“ Dichotomien

 

Wie das anhaltende Erbe des „Museumsblicks“ das Zugehörigkeitsgefühl der griechischen Identität prägt

In Benedict Andersons wegweisendem Werk „Imagined Communities“ untersucht das Kapitel „Census, Map, Museum“, wie Kolonialmächte die Wahrnehmung südostasiatischer Länder prägten. Anderson argumentiert, dass bestimmte Konzepte und Technologien, wie etwa Landkarten, die Sichtweise sowohl der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten auf diese Regionen tiefgreifend beeinflussten. Bemerkenswerterweise formten diese Wahrnehmungen die Gesellschaften auch nach dem Ende der Kolonialzeit weiter, da ihre Ursprünge in historischen Prozessen sowohl von ehemaligen Kolonialmächten als auch von ehemals kolonisierten Völkern vergessen wurden. Stattdessen wurden diese Wahrnehmungen als „authentisch“ betrachtet.

Diese Dynamik hat einen erheblichen Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl in den betroffenen Gesellschaften. Im Falle Griechenlands hat der “ Museumsblick “ – ein Begriff aus Andersons Arbeit – eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der griechischen nationalen Identität und des Zugehörigkeitsgefühls gespielt. Dieser Blick hat häufig zu Spannungen zwischen idealisierten Vorstellungen vom antiken Griechenland, einer pseudohistorischen Kontinuität des griechischen Volkes und den Realitäten des modernen Nationalstaates geführt.

Der „Museumsblick“ im griechischen Kontext bezieht sich auf die Tendenz, Griechenland primär durch die Linse seiner antiken Geschichte und Artefakte zu betrachten. Diese Perspektive wurde weitgehend von westlichen Mächten im 19. Jahrhundert geprägt, die Griechenlands Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich unterstützten, basierend auf der Idee Griechenlands als „Wiege der westlichen Zivilisation“. Seitdem finden sich Griechen oft in dieser museumsartigen Selbstwahrnehmung gefangen, mit hauptsächlich negativen Folgen für ihr Gefühl der Zugehörigkeit.

Ein klares Beispiel für dieses Phänomen zeigt sich in der griechischen Diaspora, insbesondere bei griechischen Gastarbeiter*innen der zweiten Generation in Deutschland. Die stereotypen Bilder, die mit griechischen Einwanderer*innen assoziiert werden, umfassen oft Tavernen und, für die zweite Generation, griechische „Imbisse“ der 1980er und 1990er Jahre, geschmückt mit Statuen olympischer Götter. Diese kitschigen Darstellungen des antiken Griechenlands wurden zu einem gemeinsamen Nenner sowohl in der Wahrnehmung der Griechen durch Deutsche als auch in der Selbstwahrnehmung der Diaspora. Während dieser gemeinsame kulturelle Bezugspunkt (Wiege des Westens) die Integration und ein Gefühl der Zugehörigkeit in Deutschland in gewissem Maße erleichtert haben mag, verstärkte er auch ein statisches, überholtes Selbstbild, mit dem viele in der Diaspora selbst heute noch zu kämpfen haben.

Die Beständigkeit dieser antiken griechischen Bildsprache beschränkt sich nicht auf die Diaspora. In Griechenland selbst stützt sich die Tourismusindustrie stark auf die Vermarktung des antiken Erbes des Landes, was es der Nation erschwert, ihre wirtschaftliche Basis und kulturelle Identität zu diversifizieren. Diese Abhängigkeit von der Antike als einzigartigem Verkaufsargument auf dem globalen Markt macht die Griechen effektiv zu „Dienern ihrer eigenen Karikatur“ und beeinflusst stark ihr Gefühl der Zugehörigkeit.

Die Wirtschaftskrise in Griechenland, die 2008 begann, unterstrich weiter die Spannungen zwischen Griechenlands antikem Erbe und seinen modernen Realitäten. Beispielsweise Martin Walsers Rede an der Universität Thessalien 2013, der die antiken griechischen Tugenden pries, ohne eine Verbindung zu modernen Griechen erwähnen. Ähnlich verwendete Günter Grass‘ Gedicht „Europas Schande“ klassische Anspielungen in seiner Kritik an der EU-Politik gegenüber Griechenland. (Eideneier, 2014)

Diese Fixierung auf das antike Griechenland verdeckt oft die neueren historischen Verbindungen zwischen Griechenland und anderen europäischen Ländern. So wird beispielsweise der Beitrag griechischer Gastarbeiter*innen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg oder die strategische Bedeutung Griechenlands als NATO-Mitglied (belegt unter anderem durch umfangreiche Ankäufe deutscher Leopard Panzer) übersehen. Ein weiterer Punkt wäre die Beteiligung am Schuldenerlass für Deutschland 1953, der die Stabilität Westdeutschlands sicherte.  Selbst ein „gemeinsamer“ deutsch-griechischer sportlicher Triumph, wie der Sieg Griechenlands bei der Fußball-Europameisterschaft 2004 unter dem deutschen Trainer Otto Rehhagel, wäre konstruktiver.

Interessanterweise ist die griechische nationale Identität durch eine inhärente Ost-West-Spaltung gekennzeichnet. Anders als im französischen, britischen oder deutschen Kontext, wo „der Orient“ klar als das „Andere“ wahrgenommen wird, erleben Griechen diese Andersartigkeit oft innerhalb ihrer eigenen Identität. Beispielhaft dafür ein Teil im Gedicht „Zurück aus Griechenland“ von eine der zentralen Dichter Griechenlands im 20. Jahrhundert Konstantinos Kavafis:

„Lass uns also bei der Wahrheit bleiben;
wir sind eben Griechen – was wären wir sonst? –
aber Griechen mit asiatischen Begierden und Lüsten
Griechen mit Begierden und Lüsten die manchmal dem Griechentum widersprechen.

Uns gefällt es nicht, Ermippos – uns, den Philosophen – dass wir manchem unserer niedlichen Könige ähneln (erinnerst du dich, wie wir über sie lachten, als sie unsere Studierstuben besuchten) die auf den ersten Blick, aufs Äußerste griechisch zu sein scheinen, sogar mazedonisch aber ein Zipfel Arabien kommt immer zum Vorschein und von Medien ein Stück, das sich nicht bändigen lässt mit zarten und lustigen Tricks suchen die Armen es zu verbergen“ (Kavafis, 1914)

In ähnlicher Weise äußert der zeitgenössische Philosoph Stelios Ramfos die Auffassung, dass zwar eine starke westliche Strömung in Griechenland festzustellen ist, diese sich jedoch oft eher durch äußere Umstände aufgezwungen als organisch entwickelt anfühlt. Diese innere Spannung wirkt sich maßgeblich auf das Zugehörigkeitsgefühl der Griechen sowohl zu Europa als auch zu ihrer eigenen Kultur aus.

„Die Realität ist komplizierter, und die Untersuchung unserer eigenen, unserer kollektiven Vorstellungskraft macht uns klar, dass es in Griechenland eine westliche Strömung gibt, die stark ist, deren besonderes Merkmal aber darin besteht, dass sie einfach dem Druck der Umstände folgt. Was sollten wir tun? Einen Staat gründen, 1821, damit die Europäer uns in Betracht ziehen. Aber diejenigen, die den Staat errichteten, waren Diebe, mit all ihren Sitten und Traditionen. Das heißt, es war das orientalische Gefühl, das an der Basis der Gefühle vorherrschte. Das heißt, wenn wir die Art und Weise, in der der heutige Westler hofft, und die Art und Weise, in der der Orientalist hofft, als identisch betrachten. Denn auf der Ebene der Gefühle sind wir absolut orientalisch.“ (Ramfos, 2020)

Bis heute ist diese innere Spaltung, vor allem in der Altersgruppe der 50- bis 60-Jährigen, in den Diskursen der Griechen spürbar. Dies wird ersichtlich, wenn beispielsweise jemand von Griechenland nach Mitteleuropa reist und äußert, dass er „nach Europa“ gehe. Dies veranschaulicht, dass Griechenland symbolisch geographisch und institutionell nicht in Europa verankert zu sein scheint.

Extreme Ausmaße nahm diese innere Spannung wieder während des Referendums 2015 über die Sparmaßnahmen an. Ein „Ja“ wurde als Votum für Europa und Rationalität dargestellt, ein „Nein“ als populistisch und wirtschaftlich irrational. Die aktuelle Situation Griechenlands – mit hoher Arbeitslosigkeit, veralteter Infrastruktur  und ökologischen Herausforderungen – stellt jedoch die „westliche Weisheit“ der umgesetzten Austeritätspolitik in Frage. Der Nutzen der Zugehörigkeit im „Westen“ ist immer wieder bestreitbar in Griechenland. Insbesondere in Teilen des linken antiimperialistischen politischen Spektrums wird für einen Austritt aus EU und NATO plädiert.

Eine Karikatur von Alphonse Daumier (19. Jahrhundert), die die Verschuldung Griechenlands bei den Großmächten persifliert. (Quelle: Clogg, 2020)

 „Griechenland schuldet England

Kapital 1.000.000

Ausgaben 50.000

Falsche Ausgaben 225.775

Zinsen 20.000

 Zinsen auf Zinsen 137.000

Kauf von Pistolen 375.000

Insgesamt vier Millionen“

 

 

Mitglieder der Bande von Räubern, die im April 1870, eine Gruppe englischer Aristokraten entführten und anschließend in Dilessi in Böotien tötete. Das Verbrechen löste eine Krise in den Beziehungen zu Großbritannien aus, führte zum Sturz der Regierung und lenkte die internationale Aufmerksamkeit auf die endemische Gesetzlosigkeit in weiten Teilen des ländlichen Griechenlands. (Quelle: Clogg, 2020)

 

Diese oben dargestellten Räubergruppen spielten eine zentrale Rolle im griechischen Befreiungskampf gegen das Osmanische Reich im 19. Jh. Die „Kleftes“, auf Griechisch Banditen, werden noch heute in der griechischen Volksmusik mit Klarinetten und Tanz geehrt.

Κλέφτες οι Παλιοί – Ο χορός –

Übersetzung ins Deutsche <<Die alten „Kleftes“(Banditen) – Der Tanz>>

Gleichzeitig sind diese Banditen oder „Diebe“, wie Ramfos erklärt, der „orientalische“ Teil Griechenlands, der die Kontrolle der Griechen über ihr Leben verhindert[sic](Ramfos, 2020).

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Auswirkungen des „Museumsblicks“ auf das moderne griechische Selbstverständnis das zwingend die historische Kontinuität der griechischen Kultur aufzwingt, findet sich in einer Szene aus dem griechischen Staatsfernsehen (PsilaVouna, 2010, 00:36 -00:48)

In einer Reportage aus einem Dorf nahe Ioannina im Nordwesten Griechenlands beschreibt die Frau im Video den Inhalt des Liedes „Kleftes“. Sie erklärt, das Lied handle davon, wie sich die „Kleftes“ (Freiheitskämpfer gegen die osmanische Herrschaft) vor dem Kampf vorbereiten – „Also wie die Spartianer.“

Diese Aussage ist bemerkenswert, da sie Jahrtausende und erhebliche räumliche Distanzen überbrückt, um eine direkte Verbindung zwischen der Antike und der modernen griechischen Geschichte herzustellen. Sie illustriert, wie tief verwurzelt der Wunsch nach einer kontinuierlichen nationalen Erzählung ist, die als Hauptmerkmal auf einem Bild von patriarchalem, militantem Widerstand gegen äußere Feinde basiert.

Dieses Narrativ ist jedoch sehr selektiv. Sie lässt wichtige Aspekte der antiken griechischen Geschichte aus, die nicht in das gewünschte Narrativ passen. So werden beispielsweise die Thebaner – ein Heer homosexueller Soldaten, die die Spartaner besiegten – oder die dionysischen Orgien in Euripides‘ Theaterstück „Bakkhai“ in der offiziellen schulischen Geschichtsdarstellung oft verschwiegen. Diese Auslassungen dienen der Aufrechterhaltung eines Bildes, das besser in das heteronormative, homophobe, fromme christlich-orthodoxe Narrativ des modernen Griechenlands passt. Auch die Homosexualität des bereits erwähnten Nationaldichters Konstantinos Kavafis wird in den Schulen oft verschwiegen oder als „menschliche Schwäche“ abgetan.

„Die Wahl Athens zur Hauptstadt war eine Entscheidung, die von den beeindruckenden Ruinen des Parthenon und den entsprechenden Assoziationen mit der ruhmreichen Geschichte des perikleischen Zeitalters geprägt war. In den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts war die Stadt jedoch vor allem ein staubiges Dorf, das die Orientierung des neuen Staats an der Kultur der antiken Klassik symbolisierte. Erst gegen Mitte des Jahrhunderts begann man, sich für das griechische Mittelalter und die byzantinische Vergangenheit zu interessieren. Es wurden Versuche unternommen, die klassische, mittelalterliche und moderne Periode der griechischen Geschichte in einer Theorie von einer ungebrochenen Kontinuität miteinander zu verbinden. Die Fixierung auf die klassische Antike zeigte sich in dem großen Nachdruck, der in den Schulen und an der Universität von Athen auf das Studium der Kultur des antiken Griechenlands und auf eine „gereinigte“ Form von Hochsprache, der Katharevousa, gelegt wurde. Diese stellte ein gestelztes Konstrukt dar, das Generationen von Kindern das Lernen erschwert hat“ (Clogg, 2020, S. 65).

Diese selektive, kuratierte Geschichtsinterpretation zeigt, wie der “ Museumsblick “ nicht nur die Wahrnehmung der Vergangenheit beeinflusst, sondern auch aktiv zur Gestaltung der gegenwärtigen nationalen Identität und des Zugehörigkeitsgefühls beiträgt. Es zeigt, wie historische Narrative manipuliert werden können, um bestimmte ideologische Positionen zu unterstützen und ein historisch kohärentes Bild nationaler Identität zu fördern. Kontinuität ist also ein sehr wichtiger Teil des Zugehörigkeitsgefühls, und Brüche in der Identität werden aktiv zu unterdrücken versucht.

„Bottomless Pitt“

Die Berücksichtigung der Perspektive der Lacan’schen Psychoanalyse erweist sich an dieser Stelle als hilfreich, um die Gefahren in der Dynamik der griechischen Identität und des Zugehörigkeitsgefühls besser zu verstehen. In der Lacan’schen psychoanalytischen Theorie wird sowohl die Existenz eines „authentischen Selbst“ als auch die eines einheitlichen, harmonischen Ganzen abgelehnt. Anstelle dessen wird der Begriff des „split self“ verwendet, welches nach außen hin den Anschein eines Ganzen erweckt, obwohl es in seiner widersprüchlichen Fragmentierung zerfällt. Diese nach außen präsentierte „Maske“ stellt für Lacan jedoch die eigentliche „Essenz“ des Selbst dar. Der Versuch, diese „Maske“ zu durchbrechen, um zu einer authentischen Selbstfindung zu gelangen, ist häufig mit Enttäuschung und erhöhtem Leidensdruck verbunden. Eine Anerkennung des fragmentierten Selbst würde eine Verringerung des Leidensdrucks bewirken. In seiner Auseinandersetzung mit Lacans These entwickelt Zizek eine ideologiekritische Perspektive, in der er die Annahme eines einheitlichen Selbst hinterfragt und auf das Ideologische überträgt. Nach Zizek existiert keine wahrhaft homogene Realität, die als solche wahrgenommen werden kann. Stattdessen muss konstatiert werden, dass sich der Mensch stets in einer Ideologie befindet.

Übertragen auf den griechischen Kontext könnte man argumentieren, dass die Fixierung auf die antike Vergangenheit als eine Art „authentisches Selbst“, als „Essenz“ der griechischen Identität fungiert. Der Versuch, eine „authentische“ griechische Identität in dieser historischen Projektion zu finden, kann zu Frustration und einem Gefühl der Entfremdung führen. Die „glorreiche Antike“ wird ständig mit den aktuellen Entwicklungen eines Landes konfrontiert, dessen Modernisierung noch nicht abgeschlossen ist und das nicht nur von ständigen Wirtschaftskrisen geplagt wird, sondern auch vom Klimawandel, der es in Europa derzeit am härtesten trifft (siehe Waldbrände, Flutkatastrophen und Wasserknappheit auf den Inseln). Je länger diese Dissonanz anhält, desto stärker wird die narzisstische Kränkung.

Die „kulturelle Essenz“, die oft als Kern des nationalistischen Wahns in Griechenland ist, kann im Rahmen der Lacan’schen ontologisch-diagnostischen Kategorien als eine Art Perversion betrachtet werden. Es handelt sich um eine reaktionäre Sinngebung und Begehrens-Dynamik, die sich auf verschiedene Weise manifestiert. Diese Begehrens-Dynamik von der antiken Vergangenheit, die bereits im 19. Jahrhundert pathologische Formen annahm, setzt sich bis heute fort und bestimmt einen großen Teil des politischen Diskurses in Griechenland.

„In den Jahrhunderten der Türkenherrschaft war das Wissen über die griechische Antike fast verschwunden, aber unter dem Einfluss der westlichen Wissenschaften entwickelte die aufstrebende Schicht der Intellektuellen das Bewusstsein, Erben eines Vermächtnisses zu sein, das von der gesamten zivilisierten Welt bewundert wurde. Am Vorabend des Unabhängigkeitskrieges (1821) nahmen „Ahnenwahn“ (progonoplixia) und „Antikenverehrung“ (archöolatria), um die ausdrucksstarken griechischen Begriffe zu verwenden, fast pathologische Formen der Besessenheit an“ (Clogg, 2020, S.28).

Die Bewunderung der zivilisierten Welt galt nicht den von Ramfos erwähnten Dieben, sondern einem romantisierten Bild der Antike. Die marmorweißen, eleganten Skulpturen, die für Klassik, Reinheit und Demokratie standen, waren in Wirklichkeit nie weiß, sondern waren bunt bemalt.

„ The preference for white sculptures was further reinforced by cultural and racial biases. European scholars of the 18th and 19th centuries, such as Johann Winckelmann, associated whiteness with beauty and rationality, dismissing evidence of painted statues as inferior or foreign” (Talbot, o. D)

Für jüngere Generationen von Griechen, sowohl in Griechenland als auch in der Diaspora, stellt die Navigation durch diese komplexe Identitätslandschaft erhebliche Herausforderungen dar. Während einige weiterhin antike Errungenschaften anführen („Demokratie, das haben die Griechen erfunden!“), kämpfen andere mit den Realitäten einer gescheiterten Demokratie. Diese zeigt sich besonders hinsichtlich Pressefreiheit, Polizeibrutalität und einem allgemeinen Gefühl der Hoffnungslosigkeit unter Jugendlichen zeigen. Diese Spannung zwischen idealisierter Vergangenheit und problematischer Gegenwart erschwert es vielen, ein stabiles Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln.

Die lacansche Perspektive verdeutlicht, dass der Versuch, eine „authentische“ griechische Identität in den historischen Projektionen zu finden, also eine kohärente, genealogisch lineare und reine Erzählung von der Antike über das Byzantinische Reich bis hin zur europäischen Moderne, zum Scheitern verurteilt ist. Der Versuch, diese Kohärenz aufrechtzuerhalten, würde eine enorme Anstrengung von Seiten der Individuen und des Staates erfordern, wodurch die Fragilität der Befürworter einer kohärenten Erzählung verstärkt und deren Resilienz gegenüber den polykrisen unseres Jahrhunderts sabotiert würde. Diese entspräche dem Versuch einen „Bottomless Pitt“ mit Wasser zu füllen. Anstelle der Fokussierung auf eine „authentische“ griechische Identität, die eine lineare und homogene Erzählung von der Antike über das Byzantinische Reich bis zur europäischen Moderne impliziert, sollte die Komplexität und Vielschichtigkeit der griechischen Identität, einschließlich osmanischer Einflüsse, anerkannt werden.

Während der „Museumsblick“ die antike Vergangenheit Griechenlands oft in den Vordergrund stellt, ist es wichtig zu erkennen, dass das heutige Griechenland in vielerlei Hinsicht mehr mit dem Griechenland des Osmanischen Reiches gemeinsam hat als mit der Antike. Diese Facette der griechischen Identität wird in touristischen Darstellungen oft vernachlässigt, ist aber im Stadtbild ebenso präsent und bildet einen wesentlichen Teil des komplexen Zugehörigkeitsgefühls der Griechen.

Ein anschauliches Beispiel für diese oft übersehene kulturelle Vielfalt findet sich in der Geschichte Thessalonikis. Bis ins 19. Jahrhundert hinein beherbergte die Stadt jüdische, armenische, bulgarische und ägyptische Märkte. Die meisten Einwohner beherrschten mehrere Sprachen für ihre täglichen Geschäfte, und in der Stadt existierten parallel zwei Zeitsysteme – die Turka- und die Franca-Zeit (Stewart, 2005). Diese Vielfalt spiegelt sich bis heute in verschiedenen Aspekten der griechischen Kultur wider, vom Essen über die Musik bis hin zu Redewendungen, der Sprache und verinnerlichten moralischen Vorstellungen.

Eine kulturelle Kompatibilität von Westeuropa bis zu den Küsten des mediterranen Afrikas, durch Israel über den Irak bis nach Indien, zeigt sich besonders deutlich in der Musik. Ein oft vernachlässigter, aber wichtiger Teil dieser musikalischen Vielfalt ist der Beitrag der Roma-Bevölkerung. Bedauerlicherweise wird dieser Einfluss in Griechenland oft verleugnet, was die Fragilität des griechischen Zugehörigkeitsgefühls weiter unterstreicht.

Anstatt sich ausschließlich auf sein antikes Erbe zu konzentrieren, könnte Griechenland eine einzigartige Position als Brücke zwischen Kulturen sein. Diese Rolle würde nicht nur die historische Realität besser widerspiegeln, sondern auch neue Möglichkeiten für kulturellen Austausch und wirtschaftliche Entwicklung eröffnen. Es ist bedauerlich, dass Elemente der griechischen Identität, die nicht dem westlichen Ideal entsprechen, oft als Fremdkörper wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung beruht auf einer Mischung aus rassistischen Vorurteilen und Minderwertigkeitsgefühlen, was dazu führt, dass sie verdrängt werden. Die neoliberale Schocktherapie hat dazu geführt, dass Fortschritt und Westen mit Markfundamentalismus gleichgesetzt werden. Gewerkschaftliche Tätigkeit wird von Sprachrohren der griechischen Elite, als rückständig dargestellt und als „sowjet-anatolisches“ Überbleibsel der Geschichte interpretiert wird. Während in Deutschland die Tarifverhandlungen noch im Raum stehen, hat Griechenland die Sechs-Tage-Woche eingeführt und die Mehrheit der Bevölkerung müssen mit 700 bis 1.000 Euro auskommen, während fast die Hälfte für Miete verbraucht wird und die Preise auf griechische Produkte zwei bis drei Mal so viel kosten wie im Ausland.

Für die Zukunft der griechischen Demokratie sowie das Zugehörigkeitsgefühl ihrer Bürger*innen könnte es von Vorteil sein, wenn eine „relationale“ Identität mit allen ihren „Fragmentierungen“ angestrebt wird, anstatt eine „kulturelle Essenz“ zu suchen und Ost-West Dichotomien zu reproduzieren. Es gilt, sich von der Last der Geschichte zu lösen und neue Beziehungen zur Welt aufzubauen. In Anbetracht der Klimakatastrophe und des desolaten Zustandes Griechenlands, der einen grundlegenden Systemwechsel auf allen Ebenen erforderlich macht, wäre es möglicherweise eine Überlegung wert, dass Griechenland zumindest im Symbolischen nicht mehr der Geschichte dient, sondern sich einem Neuanfang der Geschichte widmet.

Clogg, R. (2020). Eine kurze Geschichte Griechenlands: Edition Romiosini/Sachbuch.

Eideneier, Niki 2014, “Lernt Griechenland durch seine Literatur kennen“, https://www.bpb.de/themen/europaeische-geschichte/griechenland/177894/lernt-griechenland-durch-seine-literatur-kennen/, Zuletzt aufgerufen am 31.07.2024

Kavafi̲S, K. (2014). IM VERBORGENEN: Die Hidden Poems von Konstantínos Kaváfis 1863-1933.

PsilaVouna. (2010, 6. März). Κλέφτες Βελτσιστινοί – Καψάλης Γρηγόρης [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=DtAHI6Norso, Zuletzt aufgerufen am 31.07.2024

Ramfos, 2020 https://booksjournal.gr/gnomes/3076-stelios-ramfos-an-yphrxe-dytiko-revma, Zuletzt aufgerufen am 31.07.2024

Stewart, M. (2005). Salonica, City of Ghosts: Christians, Muslims and Jews 1430-1950. History Today, 1, 58. https://dialnet.unirioja.es/servlet/articulo?codigo=1062947

Talbot, M. (o. D.). The Myth of Whiteness in Classical Sculpture. The New Yorker. https://www.newyorker.com/magazine/2018/10/29/the-myth-of-whiteness-in-classical-sculpture, Zuletzt aufgerufen am 31.07.2024

Δ.Μ. (2012, 25. März). Κλέφτες οι Παλιοί – Ο χορός [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=sxBfobk_40k, Zuletzt aufgerufen am 31.07.2024

 

 

 

 

 

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