Melo(rümpel)drama: Warum unser „Zeug“ mehr über uns verrät, als wir denken

Von außen sieht alles ordentlich aus.

Doch unter oder über deutschen Wohnzimmern – in Kellern, Dachböden und Garagen – stapelt sich ein stiller Überfluss. Laut eBay Kleinanzeigen liegt dort „Zeug“ im Wert von rund 82 Milliarden Euro: alte Spielsachen, Elektrogeräte, Möbel, Fotos, Werkzeuge. Dinge, die „zu schade zum Wegwerfen“ sind – aber offenbar auch zu bedeutungslos, um sie zu benutzen.

Manche nennen es Gerümpel.
Andere nennen es Geschichte.

Das stille Reich des Überflusses

Was in deutschen Kellern geschieht, hat internationale Ausmaße. In den USA boomt das Geschäft mit Self-Storage-Boxen – kleine Mieträume für zu viel Besitz. Ganze Familien lagern dort das ab, was zu viel ist für Zuhause.

Die Forschung spricht vom „Clutter“, dem Rümpel. Und sie zieht ein klares Fazit: Clutter ist teuer. Er blockiert nicht nur Platz, sondern friert Werte ein – Rohstoffe oder Nutzwert den was verborgen ist kann nicht genutzt werden. Alles Dinge, die weitergegeben oder repariert werden könnten.

Früher war das selbstverständlich. Ein löchriges T-Shirt wurde zum Putzlappen, ein Toaster repariert, ein Stuhl geleimt. Die Nachkriegsgeneration lebte nachhaltiger, als es viele junge Aktivistinnen heute schaffen – ohne das Wort Nachhaltigkeit zu kennen. Sie hatte schlicht ein anderes Verhältnis zu Dingen.

Die Kunst der Weltpflege

Die Soziologin Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben kam zu einen ähnlichen Schluss aus ihrer Forschung. Sachen Reparieren ist eine „Form der Weltpflege“. In ihrem Buch „Verhältnisse reparieren“ beschreibt sie Menschen, die reparieren, flicken, improvisieren – und darin eine Haltung zeigen: Zuwendung.

Denn jedes Ding erzählt eine Geschichte, wenn man hinhört. Wo es herkommt, wer es gemacht hat, welche Ressourcen darin stecken. Dies erfordert nicht nur faktisches Wissen sondern auch Imaginationfähigkeit, „die Welt im Gegenstand und den Gegenstand in der Welt zu sehen“.

Hinter jedem Objekt steht ein Prozess – Rohstoffe, Energie, Transport, Arbeit. Doch wir sehen nur das fertige Produkt, nicht die Kette dahinter. Und so landen viele dieser Dinge irgendwann in unseren Kellern – vergessen, aber nicht verschwunden.

Die Gefühle, die wir horten

Rund um Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben hat sich ein Forschungsteam gebildet, das den “Rümpel”, also gelagerte Gegenstände erforscht.

Marlene Eimterbäumer untersucht Keller in ganz Deutschland. Sie spricht mit Menschen über ihre Lagerräume und die Gegenstände die dort zu finden sind – und über das, was sie dort festhält.

Aufräumen: Was ist im Keller verstaut? | ndr.de

Ioannis Theocharis beschäftigt sich mit einer anderen Dimension: unserer emotionalen Bindung an Objekte. Denn Dinge sind mehr als Materie. Sie sind Speicher. Für Erinnerungen, Wünsche, Schuldgefühle. Diese Dimensionen wenn auch wirkungsmächtig sind imaginiert.

Viele der Objekte, die wir horten, sind Geschenke, die nie wirklich zu uns passten. Aber sie stehen für Menschen, die uns etwas bedeuten. Und wer will schon symbolisch eine Beziehung in den Müll werfen?
Unsere Keller sind voll von kleinen Dramen. Von Gegenständen, die zu emotionalen Stellvertretern geworden sind.

Manchmal ist das alte Spielzeug mehr als Plastik – es ist Kindheit.
Manchmal ist der alte Pullover mehr als Stoff – er ist Verlust.

Melo(rümpel)drama – oder: Wie wir in Dingen Aspekte von uns selbst lagern

In Workshops, die ich leite, bringen Menschen Gegenstände aus ihrem Keller mit. Wir erzählen ihre Geschichten, spekulieren über mögliche Zukünfte, erfinden Bedeutungen. Was zunächst wie ein Spiel klingt, wird oft ernst.

Da sitzt jemand, der gesteht, impulsiv zu kaufen, wenn der Alltag zu stressig ist. Eine andere merkt, dass sie Dinge hortet, weil sie Angst vor Vergänglichkeit hat.
Zwischen all dem Lachen entstehen Momente der Ehrlichkeit.

Aus diesen Erfahrungen habe ich das Konzept der „zirkulären Konsumkompetenz“ entwickelt: die Fähigkeit, den Lebenslauf von Dingen zu verstehen – und damit auch sich selbst ein Stück weit. Wer erkennt, dass Besitz Beziehung ist, handelt anders. Bewusster. Nachhaltiger vielleicht, sparsamer aufjedenfall.

Ein neuer Blick auf unser Zeug

Vielleicht sollten wir uns öfter fragen über unser “Zeug” – nicht nur, wie Marie Kondo:

„Does it spark joy?“

Sondern auch:

Woher kommst du?
Wer hat dich gemacht?
Wer könnte dich jetzt brauchen? Wie kann ich dir helfen?
Wie kann ich dir mehr Wert geben?

Solche Fragen verändern den Blick. Sie öffnen die Tür zu einer anderen Haltung gegenüber Dingen – einer, die weniger mit Konsum zu tun hat und mehr mit Aufmerksamkeit.

Ein kleiner Aufruf

Also: Geh mal wieder in deinen Keller.
Nicht, um aufzuräumen – sondern um zuzuhören.

Zwischen dem alten Kinderwagen und der verbeulten Lampe versteckt sich vielleicht mehr über dein Leben, als du dachtest.
Nimm Freunde mit. Erzählt euch Geschichten. Leih euch Dinge, statt sie neu zu kaufen. Oder besucht ein Repair-Café, flickt etwas gemeinsam. Fragt euren Nachbar wenn ihr was braucht.

Denn was für den einen Müll ist, ist für den anderen ein Schatz.
Und wer lernt, seine Dinge zu verstehen, versteht irgendwann auch die Welt ein bisschen besser.

Schlussbild

Unsere Keller sind keine Orte des Vergessens.
Sie sind Archive unseres Lebens – gefüllt mit Staub, Rohstoffen und Melodramen.

Vielleicht beginnt Nachhaltigkeit genau dort:
in der stillen Begegnung mit dem, was wir aufgehoben haben.

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